Pizzo della Rossa Traverse (Tessiner Alpen)

Nach der Rückkehr zur Capanna Poncione di Braga und kurzer Rast gehe ich die Traverse des Pizzo della Rossa an, von der mir einmal ein Mann bei den Hütten von Pezze Grosse auf Italienisch erzählte. Auf der Landeskarte sind nur Spuren eines Teil des Weges eingetragen, die ich nach Maßnehmen von der in der Hütte hängenden Karte in mein GPS-Gerät übertrage.

Zunächst geht es ziemlich eben über Wiesen, wo ich hier und dort Wegspuren habe. Bald jedoch wird das Verfolgen der kaum vorhandenen Pfade zum Glücksspiel und ich verlasse mich mehr darauf, einer logischen Route zu folgen. Das klappt nicht immer, denn dazu würde es bei diesem unübersichtlichem Gelände einer Karte bedürfen, die ich wegen der Unplanmäßigkeit dieser Bergtour nicht dabei habe.

Das Wetter ist leider nicht sehr schön. Trotzdem sind die Einblicke in die Flanken des Pizzo della Rossa bereits eindrucksvoll. Zunehmend felsiger werden die Aussichten nach oben. Die SSO-Wand offenbart sich nun. Zeitweise regnet es ein wenig, und beschäftigt mit der Suche nach dem optimalen Weg lasse ich sicher den einen oder anderen schönen Blick nach oben aus.

Das Gelände ist sehr strukturiert - viele Einschnitte verlängern die Strecke. Ich erreiche weglos eine Rippe. Beim Näherkommen ahne ich bereits, dass es dahinter nicht weiter geht. Fast senkrecht bricht nun vor mir eine Felswand ein paar Dutzend Meter ab. Nach oben hin begrenzt durch eine Rinne, flankiert von fantastischen Türmen und Wänden. Da mir die Traverse als einfach beschrieben worden ist, wird es wohl kurz unterhalb dieser eindrucksvollen Felsformationen über die Rinne gehen müssen. Mittlerweile fängt es an stärker zu regnen. Ich überquere in leichter Kletterei die Rinne, um eine weitere Rippe auf der anderen Seite zu erreichen. Der Griffigkeit des Gesteins ist es zu verdanken, dass ich mir über die Nässe keine Gedanken machen muss. Auf der Rippe angekommen, schwillt hinter mir ein Rauschen an und ich sehe eine kleine Flutwelle in der Rinne anwachsend. Das herabgefallene Regenwasser hat sich in dem aus Felswänden bestehenden Trichter in der Rinne konzentriert. Der Rückweg scheint damit ersteinmal versperrt zu sein, denn wo Minuten zuvor nur Regennässe war, schießt nun ein kräftiger Bergbach zu Tal. Ich hoffe, dass ich den richtigen Weg genommen habe. Ein, zwei Eisenstangen, die ich auf der Rippe entdecke, lassen mich zunächst Böses ahnen: Eine Abseilstelle? Doch dann sehe ich weitere Eisenstifte und ein Drahtseil zur Sicherung eines ausgesetzten Abschnitts. Erleichtert nehme ich die Passage in Angriff und erreiche wieder Gehgelände. Mittlerweile scheint hin und wieder die Sonne, was wegen der Nässe sogleich wieder aufsteigende Nebelschwaden nach sich zieht.

Während ich nun schon den ganzen Tag alleine unterwegs bin, spreche ich in Gedanken zeitweise mit mir selbst. Nein, nicht mit mir selbst sondern mit vielen Menschen, mit denen ich sonst Zeit oder keine Zeit verbringe. Streitgespräche sind es und auch der Ausdruck von positiven Gefühlen. Plötzlich höre ich einen Ruf und bleibe stehen. Ich sehe niemanden und es ist gänzlich still. In der Erinnerung analysiere ich den Laut und komme zu dem Schluss, dass es wohl die Gummisohle auf den regennassen Gräsern gewesen sein muss, die dieses Geräusch verursacht hat. Ich trotte weglos weiter nachdem ich beschlossen habe, dass der beste Weiterweg wohl zu einer Schulter auf der nächsten Rippe führen muss. Plötzlich laufe ich wieder auf Wegspuren entlang und realisiere erst eine halbe Minute später, dass dies das Zeichen dafür ist, dass ich mich auf dem richtigen Weg befinde.

An der Schulter angekommen öffnet sich der Blick auf die weiten Flächen von Pezze Grosse, die ich sehr gut kenne. Ich genieße den vertrauten Anblick aus ungewohnter Perspektive. Unten die Hütten, an denen mir der Tessiner den Weg, den ich nun gegangen bin, erklärt hatte. Zugegeben, bei den damaligen Verhältnissen mit einer Menge Schnee hätte ich diesen Weg niemandem empfehlen wollen. Ich denke daran, wie ich mit Sven nach einem Versuch am SSW-Grat des Pizzo Castello die Geröllhalden im Licht des Sternenhimmels heruntergegangen bin. Die Ersatzbatterie war damals kaputt gewesen und wir mussten uns 1600 Höhenmeter mit dem minimalen Licht einer fast gänzlich leeren Batterie nach Piano di Peccia hinuntertasten. Damals lag eine weisse Plastikplane auf einer der oberen Hütten, die genügend Sternenlicht reflektierte, so dass wir den an den Hütten beginnenden Weg erreichen konnten. Heute ist noch Zeit genug bis zum Abend.

Der Weiterweg ist nun deutlich und die Geröllhalden sind bald erreicht. An den Hütten von Pezze Grosse wringe ich meine Socken aus und mache mich auf den Weg zurück zum Auto.