Sasso Bello, 2295 m, 2290 m (Tessiner Alpen)

Im Dunkeln fahren wir die schmale Straße von Bignasco herauf. Die Strecke ist unerwartet lang. Vorbei an der kleinen Kirche Madonna di Monte, die wir unbeachtet links liegen lassen. Unser Ziel ist der Sasso Bello, was so viel wie schöner Stein bedeutet. Die letzten paar Hundert Meter der Straße sind nicht mehr asphaltiert. Wir sind am Ende angekommen, ziehen die Bergschuhe an und machen uns auf den Weg. Die Stirnlampe ist kaum mehr nötig, denn es dämmert bereits.

Erst geht es einen Bach entlang und über Steinblöcke auf die andere Uferseite, wo uns ein Buchenwald aufnimmt. Eine Brücke wird überquert und der steile, kaum begangene Pfad führt uns bergwärts. Durch die Bäume hindurch ist der Basòdino über dem U-förmigen Val Bavona zu erkennen. Bald schon leuchtet seine Ostflanke im ersten Morgenlicht rot auf. Diese Momente können wir nur in unserer Erinnerung festhalten, denn ein Foto lässt sich durch dieBäume hindurch nicht machen. Auf 1240 m Höhe erreichen wir den stark verfallenen Weiler Airedo am linken Begrenzungsrücken der Valle di Chignolasc. Eine freie Sicht haben wir nur selten, wenn wir an den Masten der Materialseilbahn vorbeikommen, die nach Airón führt.

Der Sasso Bello im Gegenlicht der MorgensonneSchließlich erreichen wir Airón, einen Weiler auf 1600 m Höhe. Er besteht aus ein paar instand gesetzten typischen Tessiner Steinhütten. Alte Weideflächen geben erstmals den blauen Himmel frei. Durch unsere Ankunft gestört springen zahlreich Gemsen in den Wald. Mit den nächsten Schritten rückt der Sasso Bello ins Blickfeld; im Gegenlicht kaum erkennbar, aber eindeutig. Wenig später nimmt uns beim Weiterweg der Wald wieder auf. Eigentlich soll es nun weglos in das Tal des Ri di Chignolasc hinabgehen. Doch ein frisch gesenster Pfad leitet uns weiter und nach Erreichen der anderen Talseite hinauf zur Corte del Chignolasc. Der Sasso Bello wird größer und besser erkennbar. Der Grat, den wir uns vorgenommen haben, sieht steil, aber machbar aus. Vorbei an den letzten Hütten gehen wird durch Büsche von Heidelbeeren und Alpenrosen in einem lichten Lärchenwald mit großen alten Bäumen. Wegspuren folgend, die wir hin und wieder verlieren, flacht das Gelände ab und vor uns taucht das schöne Seelein Lago del Chignolasc auf.

Im Gegenlicht glitzert die Wasseroberfläche still. Der Ort ist wunderschön. Keine Spur irgendeiner Zivilisation ist mehr auszumachen - lediglich die kleinen Fische im See und ab und an ein Flugzeug am Himmel. Der Kessel, in dem der See liegt, wird zur Linken überragt vom eindrucksvollen Sasso Bello und nach rechts begrenzt durch die Punta di Spluga. Dazwischen liegt der Übergang Bocchetta di Spluga, Ausgangspunkt für den kurzen Südgrat auf unser Bergziel. Das Erreichen desselben ist mittlerweile gar nicht mehr Pflicht. Die Umgebung ist von solcher Schönheit, dass wir auch mit der leichteren Punta di Spluga zufrieden wären. Über Blöcke gehen wir unbekümmert unserem Ziel entgegen. Am Übergang angekommen, öffnet sich der Blick für zahlreiche unbekannte Tessiner Berge. Das tolle Wetter lässt alles traumhaft schön erscheinen.

140 Höhenmeter ZS bis zum GipfelVor uns baut sich nun der steile Grat auf, der uns durchaus kletterbar erscheint. Die ersten Dutzend Höhenmeter suchen wir nach einer logischen Route ab und es geht los. Das Klettern geht, aber die Exponiertheit geht uns an die Nerven. Unsere Späße verstummen und wir bewerten ernsthaft verschiedene Möglichkeiten des Weiterwegs. Wir fluchen über das, was wir machen. Nüchtern betrachtet stellt uns die Kletterei vor keinerlei echte Schwierigkeiten. Doch ungesichert prüft man jeden Griff auf Festigkeit, jeder Tritt wird bedächtig gesetzt und man hadert mit sich selbst. Bei einem Blick nach Westen sehen wir nun beiläufig die 4000er der Walliser Alpen aufgereiht. Wir kletternAuf dem Verbindungsgrat zwischen Ost- und Westgipfel an einer Abseilschlinge vorbei. Dies soll die einzige menschliche Spur an diesem Berg bleiben, die wir finden. Ab jetzt lässt sich von der Gratschneide auf die Westseite abweichen. "Der Weg für Feiglinge" denken wir beide. Wieder beginnen wir mit überheblichen Späßen, bei denen wir auf dem Weiterweg zum Gipfel nur noch selten verstummen müssen, wenn das Gelände doch wieder einmal höchste Vorsicht erfordert. Schon bald erreichen wir den Ostgipfel des Sasso Bello und wir sind erleichtert und glücklich. Während der Kletterei haben wir uns vorgenommen, den leichteren Ostgrat als Abstiegsweg zu wählen. Nach ausgiebiger Gipfelrast klettern wir noch ohne Rucksäcke, unbeschwert zum Westgipfel, der 200 m entfernt und 5 m höher ist. Ernste Erörterungen über die beste Umkletterung ausgesetzter Passagen wechseln mit anmaßendem Ulk ab.

Beim Abstieg vom Ostgipfel sind wir insgesamt jedoch etwas ernster, da er anspruchsvoller als angenommen ist. Er erscheint zudem ziemlich langwierig zu sein. Von der im SAC-Führer beschriebenen Route weichen wir allerdings ab und verlassen den Grat zur Südseite und können damit auch gleichzeitig den Rückweg zur Bocchetta di Spluga verkürzen. Dort angekommen wünschen wir uns noch einmal "Berg Heil", denn die alpinistischen Gefahren liegen nun hinter uns. Am schönen Lago del Chignolasc machen wir wieder länger Pause. Leider lässt die Wassertemperatur nur mehr ein Bad der Beine zu. Auf dem Rückweg bewundern wir noch einige Male den Sasso Bello, der nun im Licht der Nachmittagssonne beleuchtet ist. Nach Airón sind wir für den Schatten spendenden Buchenwald dankbar. Auf der ganzen Wanderung sind wir keinem Menschen begegnet.

Daniel Roth, 8. September 2000


Bemerkungen: Die einspurige Fahrstraße nach Madonna di Monte (736 m) erreicht man von Bignasco (443 m) aus kurz dem Wegweiser zum Schwimmbad folgend, um dann nach links in den alten Ortskern abzubiegen. Die Zeitangabe von Madonna di Monte zur Bocchetta di Spluga (2153 m) ist mit 5 Stunden reichlich bemessen.
Die Route über den Südgrat von der Bocchetta di Spluga ist im SAC-Führer Tessiner Alpen 2 beschrieben. Die Zeitangabe von 1 Stunde ist ebenfalls reichlich bemessen, wenn man seilfrei geht. Sicherungsmöglichkeiten am Grat sind eher spärlich. Die Schwierigkeitsangabe ZS ist nachvollziehbar, kann jedoch im Vergleich zu beispielsweise Walliser Hochtouren eine höhere nervliche Belastung darstellen. Die objektiven Gefahren durch Steinschlag oder Wetterumschwung sind allerdings geringer.
Der Verbindungsgrat zwischen Ost- und Westgipfel wird im Führer mit L bewertet. Die Kletterschwierigkeiten übersteigen in der Tat nicht den I. Grad, jedoch sollte man wissen, dass bereits die einfachste Gletscherberührung in der Regel zu einer L-Bewertung führt.
Der oben beschriebene Abstieg über den E-Grat ist mit WS angegeben. Wer nach Süden abweichen will, um zur Bocchetta di Spluga abzukürzen, was auch technisch einfacher ist, der folgt nach Erreichen einer charakteristischen Rampen-Verschneidung, die sich vom Grat nach NE absenkt, dem Grat weiter für ca. 20 Höhenmeter bis zu einer kleinen Scharte. Hier geht es über leichte Felsen und steiles Grasgelände, das Vorsicht erfordert, nach S hinunter bis teils über Blockhalden mehr oder weniger horizontal bis unter die Bocchetta di Spluga gequert werden kann.

Literatur: Clubführer Tessiner Alpen 2 - Von der Cristallina zum Sassariente, von Giuseppe Brenna, Schweizer Alpenclub, Biel 1992.